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„Der Hochrhein hat seine eigene Revolutionsgeschichte“ 

Der Historiker Andreas Weiß hat anlässlich der „175 Jahre Badische Revolution“ eine Biografie über den Tiengener Apotheker und Revolutionär Daniel Heinrich Saul verfasst. Vorab der Buchpräsentation hat Andreas Weiß Stattsofa Fragen zum Buch beantwortet. 

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Stattsofa: Im Jubiläumsjahr „175 Jahre Badische Revolution“ erscheint Ihre Biografie über den Tiengener Apotheker und Revoluzzer Daniel Heinrich Saul. Was hat Sie dazu veranlasst das Buch zu schreiben?

Andreas Weiß: Angeregt, mich mit Daniel Heinrich Saul zu beschäftigen, wurde ich bereits während der Recherchen zu meiner Magisterarbeit an der Universität Freiburg vor rund 25 Jahren zur Revolution von 1848/49 in Waldshut und Tiengen im Vergleich. Seinerzeit begegnete mir das Schicksal des Tiengener Apothekers in Gestalt einer dünnen Akte „Bekanntmachung gegen den Apotheker Heinrich Saul wegen Aufruhr Mai Revolution 1849“ im Stadtarchiv – meine Neugierde war geweckt, denn mit dieser Akte war das Leben eines Revolutionärs, eines politisch hochengagierten Tiengeners greifbar. Durch den ungewöhnlichen Namen und den besonderen Beruf bekam dieses Leben außerdem etwas Geheimnisvolles, fast Exotisches. Kurzum, Daniel Heinrich Saul hat mich seitdem nie ganz losgelassen, und als ich von 2012 bis 2020 beruflich unweit von Sauls Heimat in Nordhessen tätig war, habe ich angefangen, auch in Homberg (Efze), Kassel und Marburg in den dortigen Archiven nach Spuren Sauls und seiner Familie zu fahnden. Irgendwann war das Material so dicht, dass ich im Hinblick auf das Jubiläum „175 Jahre Revolution 1848/49“ einen wissenschaftlichen Beitrag zu Sauls Leben in Angriff nehmen konnte. Dass daraus ein ganzes Buch wurde, ist meinem zugegebenermaßen ziemlich hartnäckigen Spürsinn als Historiker und einem besonderen Fund zu verdanken…

Stattsofa: Sie sind in Singen geboren und in Waldshut-Tiengen aufgewachsen. Haben Sie daher ein großes Interesse an der Geschichte in Südbaden und der Schweiz im Allgemeinen und im Besonderen an Daniel Heinrich Saul entwickelt?

Andreas Weiß: Absolut, ja. Die einzigartige Landschaft des Hochrheinraums und vor allem ihre Grenzlage zur Schweiz hat mich seit ganz früher Zeit geprägt. Die Biografie zu Daniel Heinrich Saul hat insofern damit zu tun, als dass sich dessen Leben ab 1840, dem Jahr der Übernahme der Tiengener Apotheke, in ebendieser Grenznähe abspielte. Zugleich sollte gerade der Hochrheinraum durch seine Nachbarschaft zur republikanischen Schweiz eine ganz besondere Rolle in der Revolution spielen, man denke nur an den bekannten Heckerzug und seine Nebenzüge in den Ostertagen 1848, den sogenannten „Struveputsch“ im September 1848, der in Lörrach seinen Ausgang nahm, oder die Flucht des geschlagenen Revolutionsheeres vor den preußischen Truppen im Sommer 1849 in die rettende Schweiz bei Jestetten. All dies spiegelt sich auf sehr spannende Weise im Leben Sauls als Akteur vor Ort wider – und zugleich erhält damit das eigenständige lokale Geschehen in diesen dramatischen Jahren an Kontur: Es gab eine eigene Revolutionsgeschichte des Hochrheins über Heckerzug und Struveputsch hinaus, aber ebenfalls durch die Nachbarschaft zur Schweiz beeinflusst.

Stattsofa: Haben Sie durch Ihre fundierte Quellenrecherche neue Erkenntnisse über die Ereignisse der Badischen Revolution wie den Struveputsch gewonnen? Gibt es etwas, das Sie an den Aktivitäten von Daniel Heinrich Saul in der Badischen Revolution überrascht hat?

Andreas Weiß: Auf jeden Fall! Der sogenannte Heckerzug zum Beispiel bzw. sein Seitenzug, den der Lottstetter Wirt Weißhaar anführte und der am 17. und 18. April 1848 durch Tiengen kam, stellt sich im Spiegel der Quellen des Stadtarchivs Waldshut-Tiengen und weiterer Dokumente als wesentlich stärker durchorganisiertes und mit großem Zwang und Druck betriebenes Unternehmen heraus, als es bisher gemeinhin angenommen wurde. Der republikanische Struveputsch im September 1848 wiederum, der bislang auf den Raum Lörrach bezogen wird, hatte über eine entsprechende Netzwerkarbeit der Aktivisten einen recht starken Widerhall den Hochrhein aufwärts bis in den Raum Hohentengen. Bei allen diesen Ereignissen war Saul ein bislang wenig beachteter, aber wichtiger lokaler Akteur. Was mich bei dessen revolutionärem Engagement aber am stärksten beschäftigt und gefesselt hat, war seine Rolle als einflussreicher und angesehener „Türöffner“ für die neuen Machthaber der Revolution in die Gemeinden hinein, nachdem im Mai 1849 der Umsturz zugunsten der Republik in Baden tatsächlich gelungen war. In Tiengen selbst lieferte sich Apotheker Saul im Juni 1849 einen heftigen Machtkampf mit den Konservativen. Und im Falle Oberalpfens, das dem geflohenen Großherzog treu bleiben wollte, stand Saul im Zentrum eines eskalierenden Konflikts zwischen den Bewohnern des kleinen Dorfes bei Waldshut und den dorthin entsandten Exekutionstruppen – der dramatische Höhepunkt der Revolution am Hochrhein!

Andreas Weiß: "Historische Ereignisse spielen sich nicht nur in fernen Metropolen ab, sondern auch vor der eigenen Haustüre".

Stattsofa: Wie ist das Buch entstanden und wie lange haben Sie daran gearbeitet?

Andreas Weiß: Wenn ich die langsame Annäherung an das Leben Daniel Heinrich Sauls über die Archivrecherchen in Hessen dazu nehme, dann reicht die Entstehung des Buches in das Jahr 2017 zurück. Der Schreibbeginn datiert auf Anfang Januar 2019 und dauerte knapp vier Jahre. Zuletzt arbeitete ich an einer kleinen kulturgeschichtlichen Reflexion über die einzige überlieferte Fotografie Sauls; dieses Kapitel wurde sozusagen auf die allerletzte Sekunde fertig. Und damit bin ich auch bei der Quelle, die dafür „verantwortlich“ ist, dass aus dem Plan, einen Aufsatz über Saul zu schreiben, ein ganzes Buch wurde: Das Erinnerungsalbum von Sauls Enkelin Lina Venator. Diese einzigartige Quelle enthält nicht nur das genannte Foto Sauls und eines seiner Gattin Caroline, sondern auch detaillierte Schilderungen der privaten, familiären Verhältnisse, wodurch ich das Schicksal Sauls nochmals ganz anders beleuchten konnte. Über etwas verschlungene Wege wurde ich auf diese Quelle im Stadtarchiv Offenburg aufmerksam – meine Überraschung und Begeisterung, als ich diese Erinnerungen erstmals vorgelegt bekam, kann man sich ausdenken!

Stattsofa: Was würden Sie sich wünschen, was die Leserinnen und Leser aus dem Buch mitnehmen? Für welche Zielgruppe ist das Buch besonders spannend?

Andreas Weiß: Ich fände es einen Gewinn, wenn die Leserschaft durch das Buch ein Gespür dafür bekäme, dass sich große historische Ereignisse, wie die Umbruchsjahre um 1850, nicht nur in fernen Metropolen und politischen Zentren ereigneten, sondern auch vor der eigenen Haustüre und dort in durchaus eigener Weise. Wenn deutlich würde, dass es gerade mutiger Menschen in den Kleinstädten und auf dem Lande bedurfte, um in der Fläche Veränderungen zu erwirken und dass der Weg dahin sehr steinig und von vielen Rückschlägen geprägt war. Der Blick auf das Leben des Tiengener Apothekers und seiner Familie zeigt, dass es großer Risiken und Opfer bedurfte, im 19. Jahrhundert in Deutschland für mehr Partizipation und politischen Aufbruch einzutreten – das ist eine gute Lehre für uns heute. Und schließlich wird auch deutlich, dass die Vorkämpfer für neue staatliche Verhältnisse ambivalente Persönlichkeiten waren, mit Schwächen und Anschauungen, die wir heute keinesfalls mehr teilen können.   

Dem Buch wünsche ich viele Leserinnen und Leser in der ganzen Region, die einen Tiefenblick in die Zeit der Revolution von 1848/49 am Hochrhein wagen und sich dabei auf eine überraschende Biografie einlassen wollen. Es würde mich sehr freuen, wenn aus der Lektüre dann vielleicht noch mehr wird, etwa im Bereich der Geschichtsvermittlung, der politisch-historischen Bildung oder sogar, indem diese Biografie zu weiteren Forschungen anregt. Es gäbe genug Stoff hier vor Ort…

Fragen: Layla Nieden, Kulturamt Waldshut-Tiengen; Foto: Drommler Fotografie

Layla Nieden 

Autorin 

Layla Nieden ist Mitarbeiterin im Kulturamt der Großen Kreisstadt Waldshut-Tiengen.