„Balzacs Romane funktionieren wie gute Brillen…“

Dr. Jürgen Glocker hat Literaturwissenschaft und Geschichte studiert. 30 Jahre lang war er Leiter des Amtes für Kultur, Archivwesen und Öffentlichkeitsarbeit im Landkreis Waldshut. Er lebt als Schriftsteller und Kulturvermittler in Waldshut. Sein neues Buch „Honoré de Balzacs Universum oder wie man einen Menschen liest“ wird am 28.11.2023 in den Schwarzenbergsälen im Schloss Tiengen vorgestellt.

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Stattsofa: Zu Beginn Ihres neuen Buches schildern Sie, wie Sie bei der Lektüre von Balzacs Werk in einen Sog gerieten und dann den Entschluss zu diesem Buch fassten. Was hat Sie dazu angeregt? 

Jürgen Glocker: Mit der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftige ich mich seit langem. Aber mehrere Romane von Honoré de Balzac hintereinander und am Stück zu lesen, war eine neue Erfahrung. Je mehr ich las, umso begeisterter wurde ich. In meinem neuen Buch möchte ich meine Begeisterung auf passionierte Leserinnen und Leser übertragen und sie einladen, Balzac wiederzuentdecken.

Stattsofa: „Balzacs Universum“ ist also ein Sachbuch?

Jürgen Glocker: Ja, es öffnet einerseits gerade dem deutschsprachigen Lesepublikum Wissenskanäle über Balzac und sein großes Werk „Die menschliche Komödie“. Aber wir lesen ja nicht, um zu lernen, sondern um uns zu vergnügen, um im Kopf auf Reisen zu gehen. Ich möchte die Lust und die Freude an diesen Texten wecken.

Lädt dazu ein, Honoré de Balzac wiederzuentdecken: Kulturvermittler und Autor Dr. Jürgen Glocker.

Stattsofa: Was zeichnet Balzacs Schreiben aus?

Jürgen Glocker: Zum einen hat er das Prinzip erfunden, Personen mehrfach in verschiedenen Romanen auftreten zu lassen. Dadurch entwickelt sich ein Kosmos von miteinander in Beziehung stehenden Personen, Orten und Geschehnissen. Balzacs Bücher sind auch typische Vertreter des französischen Gesellschaftsromans. Deren Autoren brechen Tabus, schreiben sinnlicher und über Sinnliches. Sie haben den Mut genau hinzuschauen. Balzac gelingt dies durch eine bisweilen karikaturenhafte Zeichnung seiner Personen, er beherrscht die Kunst der feinen Übertreibung und macht dadurch Dinge sichtbar.

Stattsofa: Was zeigt er uns?

Jürgen Glocker: Balzacs Romane funktionieren wie gute Brillen, mit deren Hilfe wir besser sehen und die Welt zu lesen vermögen. Er hat ein lebendiges Panorama seines Zeitalters entworfen und den ganzen sozialen Kosmos vermessen. Er ist ein „literarischer Soziologe“.

Stattsofa: Weshalb sollen wir uns denn mit 200 Jahre alten Lebenswelten befassen? Was können wir daraus gewinnen?

Jürgen Glocker: Indem wir andere, frühere Romanwelten kennenlernen, bekommen wir Abstand zu uns selbst und unserem alltäglichen Leben. Im Eintauchen in eine fremde Szenerie können wir unseren Blick neu einstellen und auch unsere aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen strukturierter wahrnehmen. Ich bin sicher: Wenn wir uns intensiver mit Balzacs Büchern beschäftigen, betrachten wir unsere Existenz mit anderen, frischgewaschenen Augen. Balzac-Leser sind im Vorteil!

Interview und Foto: Dr. Sylvia Vetter